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Trend im Sprechtheater Dostojewski

Laut Deutschlandfunk ist das Sprechtheater gerade auf einer Dostojewski-Welle angekommen. Wir kennen Fjodor Michailowitsch Dostojewski aus seinen weltberühmten Romanen. Helmut Schmidt zählt auch zu seinen Verehrern. Im Theatergeschehen sind seine Stücke seit Jahrzehnten zum Kanon von „must have“ zu rechnen. Offensichtlich, so berichtet das Radio, ist er gerade mal wider extrem am Kommen:

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Wikipedia schreibt zu Dostojewki:

Fëdor Mihajlovič Dostoevskij; * 11. November 1821 inMoskau; † 9. Februar 1881 in Sankt Petersburg)[1] gilt als einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller. Seine schriftstellerische Laufbahn begann 1844; die Hauptwerke, darunterSchuld und Sühne, Der Idiot, Die Dämonen und Die Brüder Karamasow, entstanden jedoch erst in den 1860er und 1870er Jahren. Dostojewski schrieb neun Romane, zahlreiche Novellen und Erzählungen und ein umfangreiches Korpus an nichtfiktionalen Texten. Das literarische Werk beschreibt die politischen, sozialen und spirituellen Verhältnisse zur Zeit des Russischen Kaiserreiches, die sich im 19. Jahrhundert fundamental im Umbruch befanden. Dostojewski war ein Theoretiker der Konflikte, in die der Mensch mit dem Anbruch der Moderne geriet. Zentraler Gegenstand seiner Werke war die menschliche Seele, deren Regungen, Zwängen und Befreiungen er mit den Mitteln der Literatur nachgespürt hat; Dostojewski gilt als einer der herausragenden Psychologen der Weltliteratur.[2] Fast sein gesamtes Romanwerk erschien in Form von Feuilletonromanen und weist darum die für dieses Genre typischen kurzen Spannungsbögen auf, wodurch es trotz seiner Vielschichtigkeit und Komplexität selbst für unerfahrene Leser leicht zugänglich ist. Seine Bücher wurden in mehr als 170 Sprachen übersetzt.[3]

In der zweiten Hälfte der 1840er Jahre stand Dostojewski dem Frühsozialismus nahe und nahm an Treffen des revolutionären Petraschewski-Zirkel teil. Dies führte 1849 zu seiner Festnahme, Verurteilung zunächst zum Tode und dann – nach Umwandlung der Strafe -zu Haft und anschließendem Militärdienst in Sibirien. Nach der Entlassung 1859 siedelte er sich in Tver an und begann zunächst mit kleineren Arbeiten und dann mit den Aufzeichnungen aus einem Totenhaus seine Reputation als Schriftsteller wiederherzustellen. Mit seinem Bruder Michail gründete er zwei Zeitschriften (Wremja und Epocha). Die erste wurde verboten, der Ruin der zweiten zwang ihn zur Flucht vor den Gläubigern ins Ausland, wo er drei Jahre lang bleiben sollte. Dostojewski litt an Epilepsie und war einige Jahre der Spielsucht verfallen. Während seine Zeitgenossen Lew Tolstoi, Iwan Turgenew[4] und Iwan Gontscharow unter Bedingungen materieller Sorglosigkeit schreiben konnten, waren die äußeren Umstände von Dostojewskis Schreibtätigkeit fast zeitlebens von finanzieller Not geprägt.[5] In den letzten zehn Jahren seines Lebens lebte er in finanziell geordneten Verhältnissen und genoss Anerkennung im ganzen Land.

„Schuld und Sühne“ 

Vorlage für den Wohnblock, in dem Raskolnikow gelebt hat, war das in der Nähe von Dostojewskis Wohnung gelegene Haus an der Ecke Grazhdanskaja und Stoliarnyj.[99]

Bereits seit 1864 hatte Dostojewski sich mit seinem nächsten Werk, Schuld und Sühne, beschäftigt. Der Roman erschien von Januar bis Dezember 1866 in der Monatsschrift Russki Westnik und 1867 in Buchform; beim Publikum war er ebenso erfolgreich wie bei der Kritik.[100] Schuld und Sühne erzählt die Geschichte des Studenten Rodion Raskolnikow, der aus Hochmut zum Mörder wird, im Straflager und durch die Liebe einer Frau aber zu einer neuen ethischen Grundhaltung findet. Es war der erste der fünf großen Ideenromane, die im Zentrum von Dostojewskis Schaffen stehen. Alle fünf behandeln die Auswirkung der Wirklichkeit auf die heranwachsende Generation; ihr Anliegen war eine Diagnose der Gegenwart, d. h. der Jahre 1865–1875, die in Russland von einem fundamentalen geistigen Umbruch geprägt waren.[101]

1866 begann Dostojewski parallel zu der Arbeit an „Schuld und Sühne“ den Roman Der Spieler. Dostojewski hatte sich im Juni 1865 nach dem Zusammenbruch der Zeitschrift „Epocha“ in einer finanziell ausweglosen Situation befunden. Um weitere 3.000 Rubel aufzutreiben, schloss er mit dem Verleger Stellowski einen Vertrag, der ihn u. a. verpflichtete, bis zum 31.Oktober 1866 einen Roman mit einem Umfang von mindestens zehn Druckbögen abzuliefern[102]. Nachdem er ein Jahr für diesen Roman noch keine Zeile geschrieben hatte, engagierte er in letzter Minute am 4. Oktober eine Stenographin, die 20-jährige Anna Snitkina, mit deren Hilfe er den Roman pünktlich ablieferte. Der Spieler war Dostojewskis einziger Roman, der nicht als Feuilletonroman erschien. Stellowski war Buchhändler und bereitete die erste Gesamtausgabe von Dostojewskis Werk vor, die den kurzen Roman als Bonustext enthalten sollte.[103]Dostojewski und Snitkina kamen sich durch die Arbeit nahe. Am 8. November machte er ihr einen Heiratsantrag.[104] Die Trauung fand am 15. Februar 1867 in der Dreifaltigkeitskathedralestatt.[105]

„Der Idiot“

Dostojewski konnte mit Geld nicht umgehen, hatte Schulden und eine Anzahl von Verwandten, die versorgt werden wollten. Anna wollte die Kontrolle über das Geld selbst in die Hand nehmen und war überzeugt, dass dies leichter gelingen würde, wenn sie eine Zeitlang außer Landes gingen; geplant waren zunächst drei Monate. Um die Reise zu finanzieren, verpfändete sie ihreMitgift. Kurz vor der Abreise stellten zwei der Gläubiger Forderungen. Das Paar beschloss, so lange im Ausland zu bleiben, bis Dostojewski sich durch neue Arbeiten finanziell besser stellte. Die Reise begann am 14. April 1867 und führte zunächst nach Dresden. Wieder jedoch zog es Dostojewski zum Roulettespiel nach Bad Homburg und Baden-Baden, wo er erneut Geld verlor.[106] In Baden-Baden überwarf er sich obendrein mit Turgenew, der ihn bis dahin gelegentlich unterstützt hatte.[107] Über Basel reiste das Paar Mitte August weiter nach Genf, wo Anna am 5. März 1868 Sonja zur Welt brachte, die bereits nach drei Monaten verstarb.[108]

Bereits seit dem Sommer 1867 hatte Dostojewski den Plan für einen neuen Roman, Der Idiot.[109] Mit dem Schreiben begann er in Genf, der größte Teil entstand aber in Vevey, wo das Paar sich im Mai 1868 niederließ.[110] Von Januar 1868 an erschien der Roman in Fortsetzungen in Russki Westnik.[111]Spätere Teile entstanden in Mailand und in Florenz, wo Dostojewski das Werk im Januar 1869 abschloss.[112] Das gedankliche Experiment, das er in Der Idiot durchführte, bestand darin, einen „vollkommen guten und schönen Menschen“ ‒ den jungen Fürsten Myschkin ‒ in die zeitgenössische russische Umwelt zu stellen, was nach einer komplizierten Handlung natürlich im größtmöglichen Debakel endet.[113] Wie all seinen Arbeiten war auch diesem Roman eine hohe Intertextualität zu eigen: mit seinem Porträt eines „guten Menschen“ verwies Dostojewski ausgiebig nicht nur auf das Neue Testament und die Christus-Deutungen von Ernest Renan und David Friedrich Strauß, sondern auch die Helden von Miguel de Cervantes, Charles Dickens undVictor Hugo.[114]

„Die Dämonen“

Von Mitte August 1869 bis Ende 1870 lebten Anna und Fjodor Dostojewski in Dresden.[115] Am 26. September 1869 kam die Tochter Ljubow zur Welt, die später Schriftstellerin wurde.[116]Kurz zuvor hatte er mit dem Schreiben der Novelle Der ewige Gatte begonnen, die er im Dezember abschloss und Anfang 1870 in Strachows Zeitschrift Saria veröffentlichte.[117]

In Moskau ereignete sich am 21. November 1869 der Mord an Iwan Iwanow, einem Studenten, der der Narodnaja Rasprawa angehörte, einer von Sergei Netschajew gegründeten revolutionären Untergrundorganisation. Umgebracht hatten ihn, nach einer Meinungsverschiedenheit, seine eigenen Kampfgenossen.[118] Der Vorfall, von dem man auch in Dresden erfuhr, regte Dostojewskis Fantasie enorm an; er sah den Nihilisten Netschajew als ideologischen Abkömmling des liberalen Denkers, der er selbst in den 1840er Jahren gewesen war. Netschajew, der offenbar bereit war, für die Revolution die scheußlichsten Verbrechen zu begehen, bestätigte Dostojewskis schlimmste Erwartungen an das, worauf die materialistische und atheistische Position Tschernyschewskis ‒ konsequent zu Ende gedacht ‒ hinauslief. Aus diesen Überlegungen entstand der nächste große Roman, Die Dämonen, an dem Dostojewski vom Dezember 1869 bis November 1872 arbeitete.[119] Er erschien in Fortsetzungen in Russki Westnik von Januar 1871 bis Dezember 1872.[120]

Nach Aufzeichnungen aus dem Kellerloch und Schuld und Sühne waren Die Dämonen Dostojewskis dritte und letzte anti-nihilistische Arbeit.[121] Seine Diagnose der geistigen Situation der Zeit erreichte hier den Tiefpunkt an Hoffnungslosigkeit.[122] Aus dem Mord entwickelte Dostojewski in diesem Roman das verzwickte und surrealistische Szenario einer aus den Fugen geratenen Welt, an der fast alle Beteiligten früher oder später verzweifeln. Mit der komplex angelegten Hauptfigur Stawrogin, einem amoralischen, jenseits von Gut und Böse agierenden Übermenschen, hat Dostojewski ein dunkles Gegenstück zu dem Christus-gleichen Fürst Myschkin geschaffen. Klar ist die ideengeschichtliche Genealogie herausgearbeitet, die die aufgeklärte Generation der 1840er Jahre als die Ziehväter der Nihilisten der 1860er Jahre benennt.[123] Andererseits jedoch kommt gerade Stepan Werchowjenski ‒ im Roman der wichtigste Repräsentant der 1840er ‒ Dostojewskis Ideal des christlichen Sozialismus sehr nahe.[124]

Im April 1871 fuhr Dostojewski ein letztes Mal nach Wiesbaden zum Glücksspiel.[125] Im Juli erhielt er 1000 Rubel Vorschuss für Die Dämonen, was es ihm ermöglichte, mit seiner Familie nach Sankt Petersburg zurückzukehren.[126] Wenige Tage nach der Ankunft, am 16. Juli 1871, wurde der Sohn Fjodor geboren.[127] Das Manuskript für den Roman Die Dämonen schloss Dostojewski im November 1872 ab.[128] Er erschien in Fortsetzungen in Russki Westnik von Januar 1871 bis Dezember 1872.[129]

Der Jüngling

Seit er wieder in St. Petersburg lebte, hatte Dostojewski die Freundschaft einiger einflussreicher Persönlichkeiten gewonnen, darunter die von Konstantin Pobedonoszew, der später die „graue EminenzAlexanders III. wurde. Pobedonoszew verhalf Dostojewski im März 1878 zu einer Einladung zum Wohnsitz des Zarewitsch, wo er mit dessen Söhnen, Sergei und Pawel, mehrere Lehrgespräche führen durfte.[130] Freundschaften schloss Dostojewski auch mit dem jungen Philosophen Wladimir Solowjow und mit Sofja Andrejewna Tolstaja, der Witwe des Dichters Alexei Konstantinowitsch Tolstoi.[131]

Fürst Wladimir Meschtscherski vertraute Dostojewski Anfang 1873 die Schriftleitung seiner konservativen Wochenzeitung Graschdanin an.[132] In unregelmäßigen Abständen veröffentlichte Dostojewski darin die Kolumne Tagebuch eines Schriftstellers, die sich mit einer großen Bandbreite politischer, religiöser und philosophischer Themen beschäftigte und die in ihrer Zeit äußerst populär war, im 20. Jahrhundert wegen Dostojewskis antisemitischer Position aber auch Kritik fand.[133] In der sechsten Ausgabe des Jahrgangs 1873 erschien hier auch seine kleine Erzählung Bobok.[134]

Nachdem Dostojewski wegen eines Verstoßes gegen Zensurbestimmungen zwei Tage im Gefängnis verbracht hatte, schied er im April 1874 aus dem Graschdanin aus.[135] Bereits seit Februar bereitete er einen neuen großen Roman vor, Der Jüngling, und begann Anfang November mit der Niederschrift.[136] Seine Analyse der russischen Wirklichkeit entwickelte er darin an einem ichbesessenen jungen Mann, Arkadij Dolgorukij, der alles daran setzt, Geld, gesellschaftliche Macht und darüber unbegrenzte persönliche Autonomie zu erlangen. Die Petersburger Welt, in der Arkadij sich bewegt, erweist sich dabei als aus der Ordnung geraten und moralisch zutiefst verkommen.[137] Der Roman erschien von Januar 1875 an in den Vaterländischen Annalen.[138]

„Die Brüder Karamasow“

 

Im Januar 1876 begann Dostojewski das Tagebuch eines Schriftstellers, das nach seinem Ausscheiden bei Graschdanin nicht mehr erschienen war, auf eigene Rechnung zu verlegen.[143] Im November 1876 veröffentlichte er im Tagebuch seine Novelle Die Sanfte und im April 1877 im Graschdanin die Erzählung Traum eines lächerlichen Menschen.[144]

Den Sommer 1877 verbrachte die Familie in Mali Prikol bei Kursk, wo Annas Bruder Iwan einen Landsitz besaß.[145] Am 16. Mai 1878 verstarb überraschend das jüngste Kind, der knapp dreijährige Aljoscha.[146] Außer sich vor Schmerz pilgerte Dostojewski im Juni zum Optina-Kloster bei Koselsk, wo er Trost beim Starez Amwrosi suchte; seine Eindrücke von diesem Mann hat Dostojewski später in seinem Roman Die Brüder Karamasow für die Figur des Starez Sosima verwendet.[147] Mit den Notizen für diesen Roman hatte er schon im April begonnen; Anfang November 1880 schloss er ihn ab.[148] Der Roman Die Brüder Karamasow ist durch die immense Anzahl von Figuren und die vielen Handlungsstränge, in denen Dostojewski sämtliche Ideen und Menschenentwürfe, die ihn bis dahin bewegt hatten, erneut behandelte, hochkomplex. Die zentrale Fragen, die von den Protagonisten auf jeweils eigene Weise beantwortet werden, sind die nach der Existenz Gottes und dem Sinn des Lebens. Das Sujet ist kriminalistisch: Fjodor Karamasow, ein liederlicher Greis, wird von seinen äußerst unterschiedlichen vier Söhnen gehasst und in Gedanken getötet. Nach seiner Ermordung sind zwei von ihnen tatverdächtig, aber die beiden anderen fühlen sich moralisch mitverantwortlich. Die künstlerische Anthropologie Dostojewskis erreicht hier ihren Höhepunkt, was Sigmund Freud zu dem Urteil veranlasst hat, dies sei „der großartigste Roman, der je geschrieben wurde“.[149] Publiziert wurde der Roman in vielen Folgen von Januar 1879 bis November 1880 inRusski Westnik.[150]

Literarischer Stil

Dostojewskis Schreiben ist durch eine große Synthese künstlerischer Stile und Ausdrucksformen gekennzeichnet. So hat er Einflüsse der Aufklärung (Voltaire), des Sentimentalismus(Rousseau), Schillers, E. T. A. Hoffmanns, Puschkins, Gogols, Lermontows, Balzacs, George Sands und Charles Dickens’ aufgenommen und in neue Zusammenhänge gestellt. Dasselbe gilt für das von den Naturalisten entdeckte großstädtische Armutsmilieu und die ‒ sonst im Sensationsroman beheimateten ‒ kriminalistischen Sujets.[158] Michail Bachtin hat Dostojewskis Schreiben mit der Menippeischen Satire verglichen, einer „karnevalisierten“ Literatur, die Ernstes mit Lächerlichem vermischt und auf diese Weise das Exzentrische, Extreme und Ambivalente, das Dostojewski so sehr interessiert hat, prägnant zum Ausdruck bringt, wobei die Grenzen des Realismus immer wieder überschritten werden.[159]

Über den Rahmen der literarischen Schulen, von denen er gelernt hat, ging Dostojewski stets hinaus. Dies gilt bereits für den Erstling, Arme Leute, dessen minuziöse Beschreibung des Milieuraums zwar stark vom Naturalismus geprägt war; die Akribie, mit der Dostojewski dieses Milieu nicht nur von außen darstellte, sondern auch in den feinsten Gedanken und Gefühlsregungen der beiden Protagonisten, war jedoch seine persönliche Zutat, die er mit der naturalistischen Darstellung des Äußeren kunstfertig ins Gleichgewicht setzte.[160]

Wie Wolf Schmid aufgewiesen hat, kamen die narrativen Verfahren moderner Prosa erstmals in Dostojewskis zweitem Roman, Der Doppelgänger, zur vollen Entfaltung. Erzählvorgang und Plot befinden sich hier in einer komplexen wechselseitigen Abhängigkeit, und mit kalkulierter Unbestimmtheit wird der Leser bis zum Schluss im Unklaren gehalten, ob er es mit der Geschichte einer Paranoia oder mit einem rein fantastischen Geschehen zu tun hat.[161] Die aufwändig verflochtene Struktur erlaubt es, den Doppelgänger auf ganz unterschiedlichen Ebenen zu interpretieren, etwa als psychologischen, analytischen, sozialkritischen oder philosophischen Roman.[162]

Den nächsten Höhepunkt erreichte Dostojewskis Romankomposition in Schuld und Sühne, in dem auch die Technik der erlebten Rede, die szenische Darbietung, die „Karnevalisierung“ und die Zeichnung unbewusster Vorgänge in vollem Umfang gemeistert waren.[163] In Der Idiot war es das Sprechverhalten und der Dialog der Figuren, dem Dostojewski seine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat.[164] In den folgenden beiden Werken, Die Dämonen und Der Jüngling, verwendete er Ich-Erzähler. Deren Wahrnehmung war jeweils subjektiv verzerrt ‒ in den Dämonen durch die biedere Mentalität des Erzählers, im Jüngling durch dessen altersgemäße Überforderung ‒, wodurch die Geschichten fast bis zum Schluss verrätselt blieben und die Verwirrung der Figuren, die sich in gänzlich aus den Fugen geratenen Welten bewegen, mit der Erzählsituation komplex rückgekoppelt war. Die Diagnose des gesellschaftlichen Zustandes als Chaos wurde zum Strukturprinzip dieser beiden Romane, insbesondere im wenig gelesenen Jüngling.[165] Der Roman Die Brüder Karamasow schließlich ist mit seinen vielen Personen, Episoden und Entwicklungssträngen Dostojewskis komplexeste Arbeit und diejenige, in der die von Bachtin beschriebene „polyphone“ Struktur am deutlichsten sichtbar wird.[166] Jedem der Brüder ist ein selbstständiger Schlüsseltext zugeordnet, dessen berühmtester die Legende vom Großinquisitor (= Iwans Selbstdarstellung) ist.[167] Aufgrund seiner wohlkalkulierten Komplexität kann der Roman als Allegorie, als Theodizee, als Familiendrama, als Sozialroman, als philosophischer oder als psychologischer Roman gelesen und interpretiert werden.[168]

Rosa Luxemburg hat auf die dramatischen Elemente von Dostojewskis Romanen hingewiesen: sie strotzten derart von Handlung, Erlebnis und Spannung, dass ihre sich übereinanderstürmende sinnverwirrende Fülle das epische Element des Romans zu erdrücken, seine Schranken jeden Augenblick zu sprengen drohte.[169] Horst-Jürgen Gerigk hat diese Wirkungsweise untersucht und als machiavellistisch bezeichnet. Verbrechen, Krankheit, Sexualität, Religion und Politik würden gezielt eingesetzt, um den Leser zu fesseln.[170] Die Spannung erreicht Dostojewski durch Polarisation (arm/reich; alter Mann/junge Frau; Schurke/guter Mensch). Dinge und Charaktere werden nicht vollständig erzählt. Der Leser muss sich durch eine Reihe von Zügen, Andeutungen und Gesprächen etwas zusammenkonstruieren, was aber nie hinreicht, eine vollkommen logische Erwartung zu schaffen. Oft tritt ein Erzähler auf, der das Ganze nicht versteht, vieles nicht bemerkt und von Gerüchten berichtet. Das Verschweigen oder das unklare Andeuten von Motiven sind weitere Elemente der gezielt aufgebauten Spannung. Oft gibt Geld dem Geschehen eine ganz unerwartete Richtung. Viele der Personen haben einen Stich ins Verrückte oder sonderbare Allüren. Unverständliches wird übertrieben.[171]

Theologie, Philosophie, Psychologie und Gesellschaft

Der Einfluss, den Dostojewski auf die abendländische Geistes- und Literaturgeschichte ausgeübt hat, ist immens und in zahllosen wissenschaftlichen Publikationen beschrieben worden. Friedrich Nietzsche dürfte – in französischen Übersetzungen – Erniedrigte und Beleidigte, Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, Der Idiot und Die Dämonen gelesen haben. Er bewunderte Dostojewskis psychologischen Scharfblick und empfand ihn als „würdigen Gegner“. In der Auseinandersetzung mit Dostojewskis Romanen bot sich ihm Gelegenheit, sein eigenes hochambivalentes Verhältnis zum Christentum abzuarbeiten. Viele von Nietzsches Schriften, darunter Der Antichrist (1894), sind unmittelbare Früchte dieser Rezeption.[198] Auch die Theoretiker des russischen Symbolismus, wie Dmitri Mereschkowski, vertraten eine an Dostojewski angelehnte Religionsphilosophie.[199] Im deutschen Sprachraum erlangte Dostojewskis Gottesverständnis über Eduard Thurneysens undKarl Barths dialektische Theologie großen Einfluss auf das evangelische Denken.[200]

Hermann Hesse verstand Die Brüder Karamasow als Prophezeiung des Unterganges des europäischen Geistes.[201] Dostojewskis mehrdeutige Sentenz „Wir sind Revolutionäre (…) aus Konservatismus“[202] wurde 1921 von Thomas Mann aufgegriffen und in das Schlagwort einer „konservativen Revolution“ umgemünzt; Arthur Moeller van den Bruck hat dieses Schlagwort anschließend popularisiert.[203]

Jahrzehnte vor der Begründung der Psychoanalyse sondierte Dostojewski minutiös die menschliche Seele, wies ihre inneren Widersprüche und die Macht des Unbewussten auf und bemühte sich um eine Rehabilitierung des Irrationalen.[204] Sigmund Freud und Alfred Adler haben sein Werk studiert und konnten bei der Entwicklung ihre Lehren aus Entdeckungen schöpfen, die Dostojewski bereits ausführlich dargestellt hatte.[205] Der dänische Slavist Adolf Stender-Petersen hat Dostojewskis Schreiben als „psychologischen Realismus“ charakterisiert.[206] In den 1920er Jahren erregte Dostojewskis Beschäftigung mit dem Irrationalen auch die Aufmerksamkeit der Surrealisten, besonders von André Breton.[207]

Die Existenzialisten fühlten sich von Dostojewski angesprochen, weil er den Menschen immer wieder als einen in der Gottverlassenheit ganz auf sich Zurückgeworfenen beschrieben hatte.[208] Dostojewskis These „Wenn Gott tot ist, dann ist alles erlaubt“ bildete für Jean-Paul Sartre geradezu der Ausgangspunkt des Existenzialismus.[209] Auch für Albert Camus war das Ringen mit dem Nihilismus, das Dostojewski so beispielhaft vorgelebt hatte, Programm.[210]

In den 1980er Jahren entstand durch Beiträge u. a. von David I. Goldstein und Felix Philipp Ingold eine Debatte über Dostojewskis Antisemitismus, der sich hauptsächlich im Tagebuch gezeigt hat, als stereotype, verächtlich- und lächerlichmachende Zeichnung jüdischer Figuren, die auch in den Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, in Schuld und Sühne und in Die Dämonen sichtbar geworden ist.

Dostojewskis Überlegungen zur russischen Identität unter dem Ansturm westlicher Wertvorstellungen haben in jüngerer Zeit Orhan Pamuk angeregt, die türkische Identität neu zu begreifen.[211]

Literatur

Dostojewski gilt als Neubegründer der europäischen Romanliteratur, eine Position, die ‒ je nach Autor ‒ allerdings auch Diderot (Rameaus Neffe, 1805) und Flaubert (Madame Bovary, 1858) zuerkannt wird.[212] Kennzeichen des modernen Romans sind die Ablösung des Helden durch Durchschnittsmenschen, die Abschaffung des allwissenden, olympischen Erzählers und die Abkehr vom chronologisch und kausal angelegten Handlungsgefüge zugunsten eines Geschehens, das sich im Bewusstsein der Figuren spiegelt.[213] Die genealogische Reihe, mit der diese Entwicklung oft versinnbildlicht wird, führt von Dostojewski über Marcel Proust, Franz Kafka, James Joyce,André Gide und William Faulkner bis hin zum Nouveau roman.[214] Bis auf Faulkner, in dessen Werk sich keine Hinweise darauf finden, dass er Dostojewski tatsächlich gelesen hat,[215] waren all diese Autoren mit Werken von Dostojewski vertraut und haben ihn sehr geschätzt.[216]

 

 

Romane[

Novellen[Bearbeiten]

  • (1846) Der Doppelgänger (Двойник, Dvojnik)
  • (1859) Onkelchens Traum (Дядюшкин сон, Djaduškin son)
  • (1859) Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner (Село Степанчиково и его обитатели, Selo Stepančikovo i ego obitateli)
  • (1847) Eine Novelle in neun Briefen (Роман в девяти письмах, Roman v devjati pis’mach)
  • (1847) Die Wirtin (Хозяйка, Chozjajka)
  • (1848) Das schwache Herz (Слабое сердце, Slaboje serdce)
  • (1848) Weihnachtsbaum und Hochzeit (Ёлка и свадьба, Ëlka i svad’ba)
  • (1848) Weiße Nächte (Белые ночи, Belye noči)
  • (1864) Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (Записки из подполья, Zapiski iz podpolʹja)
  • (1870) Der ewige Gatte (Вечный муж, Večnyj muž)
  • (1876) Die Sanfte (Кроткая, Krotkaja)

Erzählungen[Bearbeiten]

  • (1846) Herr Prochartschin (Господин Прохарчин, Gospodin Procharčin)
  • (1848) Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett (Чужая жена и муж под кроватью, Čužaja žena i muž pod krovat’ju)
  • (1848) Polsunkow (Ползунков, Polzunkov)
  • (1848) Der ehrliche Dieb (Честный вор, Čestnyj vor)
  • (1849) Ein kleiner Held (Маленький герой, Malen’kij geroj)
  • (1862) Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (Записки из Мёртвого дома, Zapiski iz mërtvogo doma)
  • (1862) Eine dumme Geschichte (Скверный анекдот, Skvernyj anekdot)
  • (1865) Das Krokodil – Ein ungewöhnliches Ereignis (Крокодил, Krokodil; Fragment)
  • (1873) Bobok (Бобок)
  • (1877) Traum eines lächerlichen Menschen (Сон смешного человека, Son smešnogo čeloveka)

Essay-Sammlungen[Bearbeiten]

  • (1863) Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke (Зимние заметки о летних впечатлениях, Zimnie zametki o letnich vpečatlenijach)
  • (1873–1881) Tagebuch eines Schriftstellers (Дневник писателя, Dnevnik pisatelja)

About the author

Giovanni

Giovanni ist studierter Jurist und Philosoph als Marketingleiter bei einem Mittelständler unterwegs, Geschäftsführer einer Agentur, ehrenamtlicher Sterbebegleiter, zertifizierter Trauerbegleiter, Beirat ITA Institut für Trauerarbeit, Mitgliedschaften: Marketing Club Hamburg, Büchergilde Hamburg, Förderverein Palliativstation UKE, ITA, Kaifu Lodge, Kaifu-Ritter